Auf einer Wiese, zwischen Müll und Autoreifen, werden die toten Flüchtlinge von Lesbos begraben. Zwei Menschen wollen das ändern, den Friedhof pflegen, den meist anonym Verstorbenen einen Rest Würde zurückgeben. Doch das ist gar nicht so einfach.
by Von Boris Herrmann
Ein Eingangstor. Ein Weg. Ein Zaun. Pflanzen, Blumen, Namensschilder. Richtige Grä- ber. Das ist es, wovon Fabiola Velasquez schon so lange träumt. Aber wenn nicht alles täuscht, dann könnte es jetzt so weit sein. Sie hat endlich die Erlaubnis bekommen, diesen Friedhof pflegen zu dürfen. Freiwillig, unentgeltlich, ehrenamtlich. Jahrelang hat sie dafür gekämpft. Velasquez ist eine gelernte Physiothera- peutin, die ihr halbes Leben hier auf der griechischen Insel Lesbos verbracht hat, aber ursprünglich aus Chile stammt. Man könnte sie eine Migrantin nennen. Tut aber fast niemand. Sie kommt nämlich aus einem Land, vor dem sich Europa nicht zu fürchten scheint. Das unterscheidet sie von den meisten anderen Migranten auf Lesbos. Velasquez musste sich nicht in einem überfüllten Schlauchboot über die Ägäis schleppern lassen, sie musste nicht in Kauf nehmen, auf ihrem Reiseweg zu ertrinken, und sie wurde nach geglückter Ankunft auch nicht in ein eingezäuntes Camp gesperrt. Als ge- bürtige Chilenin kann sie in Griechenland arbeiten. Würde sie aus Afghanistan stam- men, aus Syrien oder Somalia, käme sie wohl eher hinter Stacheldraht. Fabiola Velasquez, schwarzes Haar, rost- rote Lederjacke, ist Mitte vierzig, hat aber die Energie von vier Zwanzig jährigen. Und die setzt sie für jene ein, die im Gegensatz zu ihr in Europa nie willkommen waren. Weder vor noch nach dem Tod. Hat dieser Friedhof einen Namen? „Er hat gar nichts“, sagt Velasquez. Ohne Auto ist es fast unmöglich, den Ort zu erreichen, an dem die Geflüchteten be- graben sind, besser gesagt: verscharrt wur- den. Man fährt auf Lesbos von der Haupt- stadt Mytilini rund sechzehn Kilometer in die zerklüftete Berglandschaft hinein. Serpentinen hinauf und hinunter. Die Aussicht ist oft traumhaft. Aber natürlich nur für die, die hier lebend ankommen. Wo die befahrbare Straße endet, geht man dann noch einen Trampelpfad ent- lang und klettert schließlich durch ein Loch im Maschendrahtzaun auf ein Areal, das die griechischen Lokalbehörden einen „Olivenhain“ nennen. Hier wachsen aber eher wenige Oliven. Hier wächst vor allem Gras über anonyme Gräber.
Gerade sind wieder leblose Körper unten am Strand angespült worden
An einem der ersten warmen Tage im März 2022 ist Fabiola Velasquez zusam- men mit dem deutschen Sozialmediziner Gerhard Trabert hierhergekommen. Tra- bert hatte kurz davor noch in der Bundes- versammlung neben Frank-Walter Stein- meier gesessen, er war einer der chancenlo- sen Gegenkandidaten bei der Wiederwahl des Bundespräsidenten. Zwar hat Trabert bei Steinmeier durchaus einen bleibenden Eindruck hinterlassen, aber man sieht ihm sofort an, dass seine eigentliche Berufung eher hier auf Lesbos als in Berlin liegt. „Das ist für mich das Leben“, sagt er auf dem Weg zu den Toten. Velasquez und Trabert suchen an die- sem Tag auf der wildwüchsigen Wiese nach Grabplatten und Holzkreuzen, nach Buchstaben und Zahlen, nach Spuren von Lebensläufen. Und sie sind einigermaßen schockiert, dass sie das alles hier zwischen Sperrmüll, alten Reifen und einem Auto- wrack suchen müssen. „Im Tod noch aus- gegrenzt“, sagt Trabert. Erst wenige Tage zuvor sind wieder sieb- zehn leblose Körper unten am Strand ange- spült worden. Frauen und Männer, die auf ihrem Fluchtweg gestorben sind. Auch sie werden wohl irgendwann hier oben bei den anderen auf der Wiese landen. Es sind die Toten des Mittelmeers, der Krank- heiten der Auffanglager, des Feuers von Moria, die man in den vergangenen Jahren hierhergebracht hat. Und zwar eher in Gottes Namen als im Namen Gottes. Nebenan, keine zweihundert Meter ent- fernt, durch eine Pferdekoppel getrennt, befindet sich ein bestens gepflegter christ- licher Friedhof, der zur Gemeinde Kato Tritos gehört. Die meisten Flüchtlinge, die auf Lesbos tot oder lebendig ankommen, sind aber keine Christen, sondern Musli- me. Und die griechisch-orthodoxe Kirche, sagt Fabiola Velasquez, wolle keine musli- mischen Gräber auf ihrem Friedhof. Wie die sogenannte letzte Ruhestätte ei- nes Menschen aussieht, ist nicht nur eine Frage der Religionszugehörigkeit, sondern auch eine Frage des Geldes. Sterben kos- tet. Diese Menschen hier hatten so gut wie nichts. Auch deshalb liegen sie jetzt an ei- nem Ort, der nicht nur Velasquez an das Wort „Entsorgungsstelle“ denken lässt. Auf der Wiese ragen handbeschriftete Holzlatten aus der umgepflügten Erde. Eine häufige Inschrift lautet: „Unbekannt männlich“. „Die meisten Toten gibt es im Winter“, sagt Fabiola Velasquez. Sie redet da nicht von Schiffbrüchigen, sondern von Men- schen, die es bereits auf europäischen Bo- den geschafft haben und dann teils jahre- lang in dem sogenannten Übergangscamp am Strand von Kara Tepe festsitzen. „Sie sterben an chronischen Krankheiten, die nicht behandelt werden“, sagt Velasquez. In der Europäischen Union verschiebt sich gerade einiges, in rasantem Tempo scheint die Zahl derer zu wachsen, die Migrationspolitik vor allem als Abschot- tungspolitik begreifen. Dass Menschen, die in Europa Schutz suchen, nicht nur Probleme machen, sondern in erster Linie Probleme haben, ist offenbar nur noch eine Minderheitenmeinung. Noch vor einiger Zeit waren es vor allem die Melonis, Le Pens, Orbáns und Weidels, die Geflüchtete als Gefahrengut darstell- ten. Inzwischen schürt aber auch CDU- Chef Friedrich Merz Ressentiments gegen Zuwanderer – und die Berliner Ampelkoali- tion diskutiert über Dinge, für die sie eine unionsgeführte Bundesregierung bis vor Kurzem wohl noch massiv kritisiert hätte. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) will jetzt im großen Stil abschieben und die Möglich- keit von Asylverfahren in Afrika prüfen las- sen. Wenn seine Koalitionspartner von der FDP daran etwas auszusetzen haben, dann, dass all diese Maßnahmen zur Migra- tionsabwehr aus ihrer Sicht nicht ausrei- chen. Die Linkspartei spaltet sich derweil entlang der Streitfrage, wie viel internationale Solidarität dem deutschen Wahlvolk noch zugemutet werden kann. Und Gerhard Trabert, der als Parteiloser für die Linken bei der Europawahl 2024 an- treten will, versteht die Welt nicht mehr. „Es ist alles so schwer zu ertragen“, sagt er. Trabert war ein halbes Dutzend Mal auf dem Gräberfeld von Lesbos. Schon 2019 hat er sich mit Fabiola Velasquez und ihrer Nichtregierungsorganisation „Earth Medi- cine“ zusammengeschlossen. Die beiden haben sich vorgenommen, erst mal eine Liste von den Toten zu erstellen, die hier lie- gen. Damit sie zumindest wieder einen Na- men bekommen, einen Geburtstag und ei- nen Todestag. Einen Anfang und ein Ende. Ein Mindestmaß an Menschenwürde.
Es geht darum, ob ein Menschenrecht erlischt, wenn der Mensch stirbt
Trabert ist Professor für Sozialmedizin und Sozialpsychiatrie an der Hochschule Rhein-Main, in Mainz betreibt er außer- dem eine mobile Krankenstation, in der Obdachlose kostenlos versorgt werden. Velasquez therapiert in ihrer Praxis in Myti- lini die Kriegsversehrten und Fluchttrau- matisierten aus dem Camp von Lesbos. Bei- de haben in ihren Berufen eigentlich schon genug zu tun. Sie wollen für ihre Zusatzar- beit als Friedhofsgärtner von Lesbos kein Geld. Sie wollen nur eine Genehmigung der griechischen Behörden, um hier in ih- rer Freizeit Gräber pflegen zu dürfen. Trabert hat sich von Beginn an darüber gewundert, dass man in Europa eine Erlaubnis braucht, um Menschen würde- voll zu gedenken. Aber er wundert sich noch viel mehr, seit er festgestellt hat, wie schwer es sein kann, an diese Erlaubnis heranzukommen. Zwei Hauptargumente gegen ihr Pro- jekt hören Velasquez und Trabert immer wieder. Zum einen wollen die Lokalpoliti- ker auf Lesbos „keinen Wallfahrtsort“ für die Geflüchteten schaffen. Wobei die Frage offenbleibt, vor welchen Wallfahrern man sich auf einer Insel fürchtet, auf der die le- benden Geflüchteten den größten Teil des Tages in ihrem Container-Camp bleiben müssen. Zum anderen, heißt es, wolle man mit der Anonymität auf dem Friedhof verhindern, dass Neonazis die Gräber schänden. Das klingt immerhin halbwegs einleuchtend: Wo man keine Gräber mehr finden kann, weil sie von Unkraut über- wuchert sind, können diese auch nicht so leicht besudelt werden. Einmal, im März 2022, sind sich Velas- quez und Trabert ganz sicher, ihr Ziel erreicht zu haben. Nach vielen vergebli- chen Versuchen erhalten sie plötzlich ei- nen „Anhörungstermin“ im Rathaus von Mytilini. Dort werden sie von Generalsekre- tär Iraklis Kountourellis empfangen, der an diesem Tag mit einem dicken Anorak in seinem Büro sitzt, kurz zuvor hatte es auf Lesbos noch geschneit. Velasquez sagt: „Niemand verdient es, so begraben zu wer- den. In einem Loch.“ Kountourellis nickt, stellt dann aber zwei Forderungen. Wer die- sen Ort pflegen wolle, der müsse erstens ei- nen neuen Zaun um das Gräberfeld bauen. Für die griechischen Behörden dürften da- durch keine Unkosten entstehen. Und zwei- tens: Bitte keine Grabsteine mit muslimi- schen Symbolen. Es gebe da schließlich auch Tote aus anderen Religionen. Die müssten respektiert werden. Respekt, ein interessantes Wort in die- sem Zusammenhang. Respekt ist etwas, das hier von denen gefordert wird, die sich um die Gräber derer kümmern, die diesen Respekt nie erfahren haben. Trotzdem nicken Trabert und Velasquez. Und als die beiden wieder draußen vor dem Rathaus stehen, liegen sie sich in den Armen. „Das wird wunderbar, Gerhard“, sagt Velasquez.
Auf dem Weg zum Auto sagt Trabert eher zu sich selbst: „Ist doch eigentlich idio- tisch, dass du dich freust, wenn du einen Friedhof gestalten darfst.“ Vor ziemlich genau 75 Jahren hat die UN- Vollversammlung die Allgemeine Erklä- rung der Menschenrechte verabschiedet. „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“, heißt es in Artikel 1. Sein Menschenrecht erwirbt der Mensch also mit seiner Geburt. Die Frage ist, ob ein Menschenrecht erlischt, wenn der Mensch stirbt. Darum geht es hier. Fragt man bei den Vereinten Nationen nach, was eigentlich mit den Leichen passiert, die an der Küste von Lesbos ange- spült werden, dann hat man irgendwann Erasmia Roumana vom Flüchtlingshilfs- werk UNHCR in Athen am Telefon. Rouma- na sagt, das „Management der Toten“ nach Schiffbrüchen sei in den vergange- nen Jahren stark verbessert worden. Bis 2015 habe es da praktisch kein klares Proto- koll gegeben. Inzwischen läuft es Roumana zufolge so ab: Die Leichen werden zunächst in ein Krankenhaus auf Lesbos gebracht, in dem die forensischen Untersuchungen durch- geführt werden. Manchmal haben die Geflüchteten Dokumente dabei. Oder es gibt Überlebende, die die Toten identifizie- ren können. „Das ist, wenn man so will, das gute Szenario“, sagt Roumana. Wenn die Leiche eine Identität habe, könne sie auch würdevoll bestattet werden. Was das im Umkehrschluss bedeutet, sieht man oben in den Bergen im sogenannten Olivenhain. Wobei es offenbar auch bei identifizier- ten Leichen zu Problemen kommen kann. In den meisten Fällen, sagt Roumana, wün- schen sich die Angehörigen, dass die ver- storbenen Flüchtlinge in ihr Heimatland überführt werden. „Da geht dann der StreitumdieFragelos,werdasbezahlt.“Es gibt hier zwei Möglichkeiten: Entweder die Verwandten zahlen. Oder die Botschaft des Landes, aus dem der Verstorbene geflüch- tet war, übernimmt das. In der Regel geht es um autoritär geführte oder bürger- kriegsgeplagte Länder. Man kann sich in etwa ausmalen, wie hoch dort die Bereit- schaft zur Kostenübernahmen von Leichentransporten aus der EU ist. Wenn aber niemand bezahle, dann müssten die Toten vor Ort bestattet werden, sagt die Mitarbeiterin vom UNHCR. Auch die einfachsten Begräbnisse vor Ort kosten etwas. Die Vorbereitung der Leiche für die Bestattung, der Transfer von der Leichenhalle zum Friedhof, das ma- chen Privatfirmen, die bezahlt werden müssen. Da gebe es immer Konflikte um Zuständigkeiten, sagt Erasmia Roumana. Moment mal, hat sie gerade von einem Friedhof gesprochen? Da will sich die UN- Mitarbeiterin noch mal kurz korrigieren:
„Ich kann das nicht wirklich einen Fried- hof nennen, weil dieser Ort in keinem gu- ten Zustand ist.“ Ob es dafür eine Erklärung gibt? Eras- mia Roumana, die durchaus den Eindruck erweckt, als würde sie selbst an dieser Situation verzweifeln, sagt nach einer kurzen Pause: „Lassen Sie es mich so ausdrücken: Es gibt niemanden, der sich darum kümmert.“ Tatsächlich gibt es seit Jahren zwei Leute, die sich darum kümmern wollen, aber nicht dürfen. Schon bald nach der Anhörung im Rat- haus von Mytilini stellen Velasquez und Trabert fest, dass sie sich zu früh gefreut haben. Die Genehmigung zur Pflege des Gräberfeldes wird einige Wochen später wieder zurückgenommen. Die Begrün- dung bleibt unklar. Ein weiteres Gespräch mit den zuständigen Behördenvertretern auf Lesbos im Januar 2023 ist sehr schnell beendet. Velasquez und Trabert erfahren nur, dass es „bald“ so weit sein werde. Es vergehen dann aber wieder Monate, bis die beiden eine schriftliche Genehmi- gung für ihr Vorhaben erhalten. In einer beglaubigten Übersetzung vom Mai 2023 heißt es: „Die Veränderung des Areals durch das Pflanzen von Blumen, das Anle- gen von Pfaden aus natürlichen Materiali- en (Steine und Holz), die Umzäunung des Geländes und das Anbringen von Erinne- rungsplaketten“ seien ausschließlich vom Vertragspartner zu übernehmen. „Religiö- se und kulturelle Zeichen“ sind demnach ausdrücklich nicht gestattet. Diejenigen, die ihre Hilfe anbieten, werden über ihre Rechte belehrt. Velasquez und Trabert akzeptieren alles klaglos und wollen sofort mit der Arbeit beginnen. Aber in den Wochen nach der Vertragsunterzeichnung erhalten sie plötz- lich neue Auflagen von den Behörden. Das gesamte Gräberfeld sowie wie alle Einzel- gräber müssten zunächst vermessen und dokumentiert werden. Vorher dürfe an Ort und Stelle nichts angefasst werden.
Sie wollen endlich loslegen, Gräber richten, dann gibt’s wieder neue Auflagen
Gerhard Trabert klingt in jenen Tagen verzweifelt. Immer, wenn er glaubt, am Ziel zu sein, taucht ein neues Hindernis auf. „Ich will einfach, dass es jetzt an- fängt“, sagt er im Spätsommer 2023 am Telefon. Mehr als vier Jahre sind da vergan- gen, seit er erstmals versucht hat, hier Gräber pflegen zu dürfen. Es ist schon Oktober, als Trabert zu Hau- se in Mainz eine Nachricht von Velasquez aus Mytilini erhält: Du kannst kommen, es kann jetzt wirklich losgehen. Ein paar Tage später sitzt der Sozialmediziner wieder im Flieger nach Lesbos. Er hat ein Banner dabei, auf dem in Englisch, Griechisch, Arabisch, Farsi und Deutsch steht: „An die- sem Ort sind Menschen begraben, die auf der Flucht ihr Leben verloren haben. Mö- gen sie in Frieden ruhen.“ Bei glühender Hitze, wie Velasquez am Telefon erzählt, beginnen sie ihre Säube- rungsaktion. Sie und Trabert entfernen das wuchernde Gras, die Disteln, das Gestrüpp. Sie zählen 177 Gräber, darunter auch das eines Kleinkindes. Vermutlich sind es noch viel mehr. Trabert sagt mit stockender Stimme am Handy: „Was tun wir Europäer diesen Menschen an?“ Sie haben in den ersten Tagen drei Helfer bei dieser Arbeit. Drei Männer aus Afghanistan, die dafür tagsüber ihr Flüchtlingscamp verlassen dürfen.
Originaly published at DEFGH Nr. 261, Montag, 13. November 2023 DIE SEITE DREI
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